Bei einem Aufenthalt in Prag besuchte ich auch das ehemalige
Judenviertel, das Prager Ghetto. Dabei konnte ich mich der be-
drückenden Atmosphäre, die über diesem Stadtteil lag nur
schwer entziehen.
Im Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert hinein mussten die jü-
dischen Mitbürger dort streng isoliert leben. 1849 wurde das
Ghetto endlich aufgelöst und saniert. Vorher standen die Häuser
dichtaneinandergedrängt, sie waren baufällig und im Inneren
lichtarm. Wegen der räumlichen Enge konnten sich die Men-
schen kaum voneinander abschotten. Das tägliche Elend in Ar-
mut und Schmutz führte zu Bespitzelung und Gewalt.
In dem Roman "Der Golem"von Gustav Meyrink (erschienen1915)
beschreibt der Dichter u. a. eine Episode aus dem Leben des
sensiblen Künstlers A. Pernath, der in einem kleinen Zimmer im
Ghetto lebt und arbeitet. Dieser wird von seinen drei handfesten
Freunden eines Tages in ein Lokal eingeladen, um etwas zu trinken
und sich ein bisschen zu amüsieren. Er erlebt dort, wie sich Tanz,
Alkoholrausch, Prostitution und Korruption zu einem wilden Wirbel
steigern. Von Lebensekel ergriffen wird er ohnmächtig. Seine Freunde
tragen ihn auf einer Bahre in das Zimmer seines Nachbarn, des Archi-
vars Hillel. Dieser Mensch ist durchlässig für göttliche Kräfte
und kann Pernath aus seiner Erstarrung lösen.
"Das Leben kratzt und brennt wie ein härener Mantel, aber die
Sonnenstrahlen der geistigen Welt sind sanft und erwärmend,"
sagt er. Mit diesen Worten ziehen Friede und Gelassenheit in den
verstörten Pernath ein.
Die absurden und abgründigen Vorgänge in seiner Umgebung
üben keine Macht mehr über ihn aus.
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