Eine Bemerkung zuvor: Am 18. April 2016 starb Roland van Vliet (geb. 1960). Er lebte in Maastricht und war der Stiftung Rosenkreuz freundschaftlich verbunden. Er nahm an zweien ihrer Symposien teil. Die Texte des einen von ihnen (Mensch und Erde – Wege zu einem inneren Klimawandel, Symposium Bonn 2010) sind als Paperback der Stiftung noch erhältlich. Der folgende Text ist ein Auszug aus Roland van Vliets Vortrag.
Die Fama Fraternitatis Rosae Crucis (1614) berichtet, dass Christian Rosenkreuz (1378-1484) am Ende des 14. Jahrhunderts nach Damcar (Saba) im heutigen Süd-Jemen gelangte. Hier wurde er empfangen durch Weise, die ihn offensichtlich erwartet hatten. Die Fama sagt, dass er bei ihnen Physik und Mathematik erlernte und auch bei ihnen das geheimnisvolle Buch M studierte. Es ist das Buch Mundus; alle seine Buchstaben sind Aspekte der Natur, aber wer kann sie lesen? Das Buch M gibt die Möglichkeit, „den schlafenden Geist der Natur“ – um mit Friedrich von Schelling (1775-1854) zu sprechen - zu wecken und kennen zu lernen.
Wenn man der Frage nachgeht, wem Christian Rosenkreuz in Saba begegnet sein könnte, stößt man auf einen bestimmten Zweig des Ismaelismus. Der Kreis der Ikhwan al Safa, der Brüder der Reinheit, hatte schon im 8. Jahrhundert eine Enzyklopädie zusammengestellt, worin die Physik, die Mathematik und die Metaphysik vereint waren. Diese Gruppe der Ismaeliten besaß das geheime Buch Umm al kitab, „die Mutter des Buches“, das Urbild des Buches M.
Bemerkenswert ist, dass ihre Lehre eine manichäische Tendenz hat. Sie beschreibt das Dasein von zwei Welten. Auf der einen Seite befindet sich Ahriman mit seinem „geliehenen“ Licht, auf der anderen Seite sind die neun Engelhierarchien und der Geist des Lebens oder Jesus, der im Manichäischen „Jesus der Strahlende“ oder „Jesus der Sonnenglanz“ genannt wird. Gesprochen wird von dem Fall des Ur-Adam in die materielle Welt und seiner Erlösung durch Salman oder „Jesus den Sonnenglanz“. Das ist in der Tat manichäische Kosmologie. Das Buch M wird von Ismaeliten auch heute noch am Flusslauf des Oxus bewahrt.
Christian Rosenkreuz lernte also durch das Studium eines Buches, das die Kosmologie Manis (216-276) enthält, den schöpferischen Geist in der Natur verstehen. Der Manichäismus wird von manchen Forschern auch als „der zweite Hauptstrom des Christentums“ bezeichnet (siehe Der Manichäismus, Geschichte und Zukunft einer frühchristlichen Kirche, Roland van Vliet, Urachhaus, Stuttgart, 2007).
Auf sehr besondere Weise spricht Mani davon, dass Christus unsere Erde verwandeln will, indem er „an einem stillen Sabbattag“ die Säule der Herrlichkeit mit „ihren Füßen“ in die Tiefe unserer Erde stellt und mit „Schultern und Haupt“ in das Neue Jerusalem. Es geht Mani nicht allein um die Transformation und Erlösung des Menschen, sondern auch um die der Natur und der Erde. Sowohl Christian Rosenkreuz als auch Mani verkünden ein esoterisches Christentum, durch das der Geist in der Natur – ohne dass es etwas mit Naturreligion zu tun hätte – verstanden und zur Befreiung geführt werden kann.
Mani sagte, dass Jesus Christus durch seinen Tod und seine Auferstehung in Liebe das Licht in und um die Erde gebracht und die Säule der Herrlichkeit in den Mittelpunkt der Erde gestellt hat. Sie verbindet als kosmische Lichtsäule die Erde mit dem Lichtschiff des Mondes, dem Lichtschiff der Sonne und mit der Neuen Lichterde oder dem Neuen Jerusalem. Die Säule der Herrlichkeit verbindet also Himmel und Erde. Sie ist die geistige Gestalt des Christus, in die jeder seiner Jünger, der die Lichtseele zur Blüte gebracht hat, nach dem Tod aufgenommen wird. Er erhält darin von „Jesus, dem Großen Richter“, (einer Emanation von „Jesus dem Sonnenglanz“) seine Auferstehungsgestalt als ein Abbild der Auferstehungsgestalt des Jesus Christus. Somit wird die Säule der Herrlichkeit auch Vollkommener Mensch genannt. In ihm wird die gesamte individualisierte und befreite Menschheit einmal die Gestalt des Christus empfangen.
Die Säule der Herrlichkeit erfüllt auch eine wichtige Funktion bei der Befreiung des Jesus Patibilis im natürlichen Kosmos. Außer in den Menschen begegnet man im Firmament, in den Wolken, den Tieren, Bäumen, Pflanzen, im Wasser und Gestein dem Wort Gottes oder der Lichtseele des Urmenschen; sie verleiht ihnen die edlen Eigenschaften.
Daher hatten die Manichäer die größte Ehrfurcht vor der Schöpfung und legten das Gelübde ab („das Siegel der Ruhe der Hände“), die Natur im tiefstem Mitleid mit Jesus Patibilis gewaltlos und sorgfältig zu behandeln. Auch enthielten sie sich des Fleischessens, weil das die Lichtseele des Tieres noch stärker an das Leibliche binden würde. Auf dem sog. Bemafest wurden den Electi (Auserwählten) unter der Zelebrierung von christlichen Hymnen von den Katechumenen oder Auditores (Hörern) Getreide und Früchte angeboten, deren Lichtseele durch den veränderten Stoffwechsel des Electus über seinen Kopf, der wie ein Opferkelch fungierte, in die Säule der Herrlichkeit aufgenommen werden konnte.
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