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Erwachen heißt: aus alten Kleidern herauswachsen, eine neue Perspektive erringen. Und: aushalten, dass sie alles auf den Kopf stellt.
Dazu gehört die Sicht auf hohe Werte wie Liebe, Gerechtigkeit, Freiheit, Brüderlichkeit ... Wer wollte ohne sie leben? Irgendwie sind sie in uns und wir verspüren den Drang, sie zu verwirklichen. Aber wie? Keinen einzigen dieser Werte kann man in der Welt dauerhaft verankern. Jeder ruft Gegenkräfte hervor und das Ergebnis ist Streit.
Aber ohne die Werte geht es nicht. Es gäbe keine guten Motivationen mehr. Das Leben wäre nicht auszuhalten.
Jesus verkörperte die Werte. Er wies darauf hin: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“. (Joh. 18, 36) Sind diese Werte gar nicht aus dem Dunkel der Materie herausgewachsen? Wo kam Jesus her? Die Frage ist wichtig. Denn er sagte: „Folget mir nach.“
Und: „Niemand fährt zum Himmel, denn der vom Himmel herniedergekommen ist, nämlich des Menschen Sohn, der im Himmel ist“. (Joh. 3, 13)
Zum Himmel fahren und vom Himmel herniederkommen – als fortwährendes Hin und Her kennzeichnet es den Weg des Erwachens. Goethe sagte: „Vom Himmel kommt es, / zum Himmel steigt es, / und wieder nieder / zur Erde muss es, / ewig wechselnd“ (aus: Gesang der Geister über den Wassern). Es geschieht zunächst in kleinem, bescheidenem Ausmaß, dann bewusster, weitreichender. „Was unten ist, ist gleich dem, was oben ist, und was oben ist, ist gleich dem, was unten ist, damit die Wunder des Einen sich vollziehen“, so heißt es in der Tabula Smaragdina, in der sich Ur-Weisheit spiegelt. Dies weist auf das Entstehen einer neuen Seele hin. Ebenso das Vaterunser: „Wie im Himmel, also auch auf Erden.“ Das soll und kann im Menschen geschehen.
Denn etwas von ihm ist „im Himmel“.
Die Aufforderung zum Erwachen ergeht an den „Menschen“, nicht an den Christen, den Moslem, den Hindu … Die Aufforderung ist ein innerer Klang, eine Art Musik, die man in die Worte kleiden könnte: „Mensch, mein Bruder, meine Schwester“. Der Klang möchte sich über die Welt ausbreiten, er möchte die Quelle der Motivationen werden.
Mystik vermittelt diesen Klang. Wo heute der Islam herrscht, lebten früher viele christliche Mystiker. Einer von ihnen ist Babai der Große. Er lebte in Persien von 550 bis 626 n. Chr., war also Zeitgenosse Mohammeds. Er sagte:
„Wenn der Geist (nous) von Gedanke zu Gedanke fortschreitet, dann von Kontemplation zu Kontemplation und wiederum vom Gedanken zur Kontemplation und von der Kontemplation zum Gedanken, dann wird manchmal der über das Sichtbare hinausgehende Zustand zum Gedanken oder zur Kontemplation verwandelt, um dann wieder zu dem über alles Sichtbare hinausgehenden Zustand aufzusteigen, wie dies geschieht in der Stunde des Gebets.“
Und an anderer Stelle: „Wenn der ‚Geist’ auch alle Stufen der Erkenntnis der körperlichen und der körperlosen Naturen erreicht hat, tritt er ein in das Meer des Grenzenlosen, wo es weder ein Oben noch ein Unten gibt, auch kein Ende irgendeiner Art. (…) Das ist die rechte Erkenntnis, die keine Erkenntnis ist, sondern Schweigen und Stille und Unbegreiflichkeit und Ruhe und Seligkeit ohne Ende.“ 1
Ebenfalls aus Persien stammt ein bedeutender Sufi: Abu Hamid Muhammad Ibn Ajhad al-Ghazali (1058-1111). Zunächst war er ein einflussreicher Lehrer im Bereich der Sunna. (Neben der Shia eine der beiden großen Strömungen im Islam.) 2
Im Verlauf seines Lebens vollzog Al-Ghazali eine Wende. Ein Ausspruch des Propheten wirkte auf ihn: „Die Menschen befinden sich in einem Schlaf, wenn sie sterben, werden sie wach“, und ferner Worte aus dem Koran: „Wir haben dir den Schleier von deinen Augen genommen, sodass dein Blick heute scharf geworden ist“. (Sura 50:21)
Al-Ghazali schrieb: „ (…) erschlossen sich mir Dinge, die ich weder aufzählen noch ergründen kann. (…) Doch Folgendes möchte ich hier erwähnen (…) Ich wusste nun mit Gewissheit, dass die Sufis diejenigen sind, die deshalb auf dem Weg des erhabenen Gottes fortschreiten, weil ihre Lebensweise die beste aller Lebensweisen, ihr Weg der richtigste aller Wege und ihre Gesinnung die reinste aller Gesinnungen ist.“
Und ferner: „Der Anfang des Weges beginnt mit Visionen und Offenbarungen (…) Dann steigert sich dieser Zustand von dem bloßen Schauen der Bilder und Symbole zu Stufen, die mit Worten nicht mehr beschrieben werden können. (…) Allgemein gesagt führt dies zu einer Nähe Gottes, die sich die einen als ein Innewohnen (hulul), die anderen als Vereinigung (ittihad) und wieder andere als ein Erlangen (wusul) vorstellen. Dass dies alles falsch ist, zeigen wir in unserem Buch Das erhabene Ziel, Erklärung der heiligen Namen Gottes. Wer einen solchen Zustand erlebt hat, sollte nicht mehr darüber
sprechen.“ 3
Die erlangten Zustände werden von immer neuen abgelöst. Sie lassen sich nicht in Worte fassen. „Etwas“ im Innern wird lebendig, das über das normale Leben hinausreicht. Es gehört zu uns. Es zeigt unser Dasein in größerem Bezugsrahmen.
Fortsetzung folgt
1) Georg Günter Blum, Die Geschichte der Begegnung christlich-orientalischer Mystik mit der Mystik des Islam, Wiesbaden 2009, S. 67, 68.
2) Zur Sunna gehören die 114 Suren des Korans, die Erzählungen und Aussprüche aus dem Leben des Propheten (Hadith)und die alle Gebiete des Lebens umfassende Auslegung des göttlichen Gesetzes (Scharia), das im Koran offenbart wurde und durch die Regeln, Vorschriften und Gewohnheiten der frühen Gemeinde in der Zeit der ersten vier „rechtgeleiteten Kalifen“ (632-662) kodifiziert wurde.
1) Blum, a.a.O., S. 590
3) Blum, a.a.O., S. 598 f.
alte Abb.: Alchemie Quelle Pinterest